Im „Feldlazarett“ von Rio de Janeiro

Ein mit Handschellen an einem Krankenbett gefesselter Junge wird von Notärzten des öffentlichen Krankenhauses Adao Pereira Nunes behandelt. Er hat eine Schussverletzung am Bein erlitten. Das Krankenhaus in einem Vorort von Rio de Janeiro gleicht einem Feldlazarett. | Diego Herculano/dpa

Dieses Krankenhaus in einem Vorort von Rio de Janeiro gleicht einem Feldlazarett. Wer in die Notaufnahme des Adão Pereira Nunes kommt, fällt oft in eine von zwei Kategorien: Schussverletzung (PAF – nach den portugiesischen Anfangsbuchstaben) oder Stichverletzung (PAB).„Wir bekommen ein PAF rein“, ruft ein Arzt seinen Kollegen zu. Vor der Tür hält ein Krankenwagen. Die Sanitäter ziehen einen Mann aus dem Auto, das Knie blutverschmiert, leerer Blick, die Hände in Handschellen. Die Polizei kommt gleich hinterher. Es ist ein Freitag, und es ist bereits die zehnte Schussverletzung des Tages. Die Klinik liegt in der Ortschaft Duque de Caxias im Großraum Rio de Janeiro, nahe der Favela Beira Mar und den Vierteln Belford Roxo, São Joao de Meriti und Magé, wo die Gewalt immer mehr um sich greift.

Das Hospital Adão Pereira Nunes ist spezialisiert auf Traumatologie und Notfälle. „Wir behandeln hier keine Kopfschmerzen“, sagt Arzt Fernando Pedrosa. Im vergangenen Jahr versorgte sein Team 785 Patienten mit Schussverletzungen. Das sind mehr als zwei pro Tag – die höchste Zahl in ganz Rio de Janeiro. „Es gibt Leute, die sich darüber aufregen, wenn wir von einem „Feldlazarett“ sprechen. Aber wie sollen wir ein Krankenhaus nennen, an dem wir an einem Samstag auch mal 15 Schussverletzungen behandeln?“, fragt einer der Ärzte.

Der Chirurg Thyago Pereira sagt: „Nach der Art der Verletzungen, die wir hier behandeln, ist es wie im Irak oder Afghanistan. Woran in Rio kein Mangel herrscht, sind Kriegswaffen: Gewehre, Maschinengewehre. Abgesehen von Kriegsgebieten dürfte die Zahl an Schussverletzungen, die wir hier behandeln, eine der höchsten der Welt sein.“

Rio de Janeiro leidet seit Jahren unter einer Welle der Gewalt. Einige Zeitungen haben bereits Rubriken unter der Überschrift „Krieg“ eingeführt. Die Handy-App „Kreuzfeuer“ warnt die Nutzer in Echtzeit vor Schießereien.

Ganz Brasilien steckt in einer schweren Krise. Vor einigen Jahren galt die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas noch als aufstrebende Regionalmacht, der damalige Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva holte Millionen Menschen aus der bittersten Armut. Heute sitzt der immer noch äußerst populäre Ex-Präsident wegen einer Schmiergeldaffäre hinter Gittern.

Durch die jüngsten Korruptionsskandale ist fast die gesamte politische Klasse des Landes diskreditiert. Nach einer schweren Rezession erholt sich die Wirtschaft nur langsam. Die Olympischen Spiele und die Fußballweltmeisterschaft sorgten nicht für den erhofften Aufschwung. Und die Spirale der Gewalt dreht sich weiter.

Davon bleibt auch Rio de Janeiro nicht verschont. Cidade Maravilhosa, wunderbare Stadt, wird die Millionenmetropole auch genannt. Viele verbinden mit Rio vor allem Strand und Karneval, Samba und Caipirinha. In weiten Teilen hat sich die Perle am Atlantik aber in ein Albtraumszenario verhandelt.

In den Favelas der Touristenhochburg kämpfen kriminelle Banden um jeden Straßenzug. Paramilitärische Gruppen machen Jagd auf mutmaßliche Gangster. Und wenn die Polizei beispielsweise mit der Spezialeinheit BOPE in die Elendsviertel einrückt, verwandeln sich die steilen Gassen an den Berghängen in ein Schlachtfeld.

Im vergangenen Jahr tötete die brasilianische Polizei bei ihren Einsätzen 5.012 Menschen. Das waren 19 Prozent mehr als 2016, wie aus dem Gewaltmonitor des Nachrichtenportals G1, der Universität von São Paulo und dem Brasilianischen Forum für öffentliche Sicherheit hervorgeht. Die Zahl der getöteten Polizisten hingegen ging um 15 Prozent auf 385 zurück.

Allein in Rio töteten Polizisten 1.227 Menschen, 51 Beamte kamen ums Leben. Die Applikation „Kreuzfeuer“ registrierte zwischen Mitte März und Mitte April über 1.500 Schießereien in der Stadt am Zuckerhut. Das stellt auch besondere Anforderungen an die Ärzte: Doktor Pedrosa diente früher beim Militär und nahm an der UN-Blauhelmmission in Haiti teil. Danach absolvierte er in Israel eine Fortbildung, die ihm jetzt auch bei seiner Arbeit in Rio zu Gute kommt: Chirurgie bei Schussverletzungen. „Am kompliziertesten ist es, wenn die Kugel ein- und auf der anderen Seite wieder ausgetreten ist. Das bedeutet, dass sie auf ihrem Weg großen Schaden angerichtet hat. Wir beginnen dann mit der Operation am Austrittsloch“, erklärt der Mediziner.

Schwierig wird es vor allem, wenn viele Verletzte gleichzeitig in der Notaufnahme auftauchen. „Wir haben nicht genug Ressourcen. Auch wenn es schwerfällt, müssen wir dann Entscheidungen treffen. Wenn zwei Schwerverletzte reinkommen und ich beide gleichzeitig retten will, kann es passieren, dass ich keinen einzigen retten kann.“

Und wenn ein Krimineller und ein Unschuldiger zur gleichen Zeit eingeliefert werden? „So dürfen wir nicht denken. Ich frage nicht nach der Vorgeschichte oder nach dem Grund, warum jemand hier landet“, sagt er. „Ich bin Arzt und es ist meine Pflicht, Leben zu retten.“ (dpa)