Fünf Lehren aus dem Brexit-Drama

<p>Unter normalen Umständen hätte Theresa May (vordere Reihe, in der Mitte) wohl bereits zurücktreten oder eine Neuwahl ansetzen müssen. Doch auf eine Alternative zu May können sich die Abgeordneten auch nicht einigen.</p>
Unter normalen Umständen hätte Theresa May (vordere Reihe, in der Mitte) wohl bereits zurücktreten oder eine Neuwahl ansetzen müssen. Doch auf eine Alternative zu May können sich die Abgeordneten auch nicht einigen. | afp

Am Anfang eine überstürzte Rettungsmission in Straßburg, wo die britische Premierministerin Theresa May am letzten Montag um allerletzte Zugeständnisse der Europäischen Union feilschte. Am Ende in London der Wunsch nach Verschiebung des Brexits. Was für eine Woche. Wer auf der Achterbahn der Ansagen und Widerworte, der Voten und Volten aus der Kurve getragen wurde, ist sicher nicht allein. Zwei Wochen vor dem ursprünglich angekündigten EU-Austritt Großbritanniens versinkt das historische Projekt in einem beispiellosen Durcheinander. Fünf Lehren lassen sich dennoch ziehen nach diesen bemerkenswerten Tagen.

1. Wir wissen, was nicht kommt: Das britische Unterhaus hat drei wichtige Entscheidungen getroffen: Es stimmte gegen den von May mit viel Mühe und nächtlichem Einsatz nachgebesserten EU-Austrittsvertrag. Es stimmte aber auch gegen einen EU-Austritt ohne Vertrag. Und es beantragte folgerichtig zuletzt eine Verschiebung des vor zwei Jahren festgelegten Brexit-Termins 29. März. Die Entscheidung über die Verlängerung soll beim EU-Gipfel am Donnerstag fallen. Diplomaten in Brüssel halten es für sehr wahrscheinlich, dass die übrigen 27 EU-Staaten den Aufschub billigen werden. Dann passiert am 29. März also: nichts. Wie lange Großbritannien noch Mitglied bliebe, ist offen. Das hängt auch davon ab, ob May vielleicht doch noch irgendwie eine Mehrheit für den bereits zweimal abgelehnten Brexit-Vertrag zusammenbekommt.

2. Eine Regierungschefin regiert ohne eigene Mehrheit: Die schier unverwüstliche Regierungschefin geht schwer angeschlagen aus der letzten Woche. Nicht nur, dass Theresa May bei den unendlichen Debatten im Unterhaus zeitweise vor Heiserkeit die Stimme wegblieb. Mehrfach stimmten Teile ihrer Konservativen Partei gegen die eigene Premierministerin – gegen den Brexit-Deal, gegen eine weichere Form der Absage an einen Ausstieg ohne Vertrag. Auch beim Votum für eine Verlängerung versagten May mehr als die Hälfte ihrer Fraktion und sogar mehrere Kabinettsmitglieder die Gefolgschaft. Unter normalen Umständen hätte sie wohl bereits zurücktreten oder eine Neuwahl ansetzen müssen. Doch auf eine Alternative zu May können sich die Abgeordneten auch nicht einigen.

3. Ein gespaltenes Land sucht Kompromisse: Dafür zeigte das britische Parlament unter dem Druck der Ereignisse Zeichen der Erkenntnis, dass es ohne Kompromisse in der Demokratie nicht geht. Oppositionsführer Jeremy Corbyn kündigte den Versuch an, mit Abgeordneten der regierenden Tories einen Konsens über einen weicheren Brexit mit engerer Bindung an die EU zu suchen. Allerdings scheitert auch Corbyn immer wieder mit seinen Vorstößen, unter anderem für ein zweites Referendum. Und die Abgeordneten konnten sich mehrheitlich auch nicht dazu durchringen, May die Kontrolle über den Brexit-Prozess zu entreißen und selbst den weiteren Kurs festzulegen. Die Regierung deutete jedoch ebenfalls Kompromissbereitschaft an. Sollte der Brexit-Deal auch ein drittes Mal abgelehnt werden, seien Abstimmungen über Alternativen denkbar, sagte Vize-Regierungschef David Lidington. Brüssel wartet dringend auf einen Konsens in London.

4. Die EU steckt in der Klemme: Die Ereignisse in London treiben die EU zum Handeln. Die übrigen 27 Länder blicken ratlos auf das Wirrwarr, wollen aber auch nicht den Schwarzen Peter für einen gefürchteten Chaos-Brexit. Bei der Verschiebung in dieser Woche geht es deshalb vor allem um die Frage: Wie lange? Will die Gemeinschaft wirklich womöglich noch ein Jahr oder mehr ein Mitglied in ihren Reihen halten, das sich schon halb verabschiedet hat? Droht dann die Brexit-Endlosschleife? Die Lust ist auch bei jenen EU-Politikern gering, die die Entscheidung der Briten von 2016 immer wieder öffentlich bedauert haben. Die EU will sich vor der Europawahl im Mai endlich wieder um sich selbst und ihre künftige Richtung kümmern. Aber so oder so wird das Thema nicht verschwinden. Die Trennung sei ja nur der Anfang, sagt EU-Chefunterhändler Michel Barnier. Das wichtigste komme erst noch: die Ordnung der künftigen Beziehungen zu Großbritannien.

5. Wir wissen nicht, was kommt: Die anstehende Woche dürfte politisch ähnlich hohe Wellen schlagen wie die vergangenen Tage. Trotz der Entscheidungen in London sei die Gefahr eines ungeregelten Austritts nicht gebannt, warnt Barnier: „Die Situation ist ernst.“ Bis spätestens Mittwoch will Theresa May die britischen Abgeordneten zum dritten Mal fragen, ob sie ihren Brexit-Deal nicht vielleicht doch noch mittragen. Dann käme Großbritannien aus ihrer Sicht mit einer kurzen Verlängerung der Austrittsfrist bis 30. Juni aus. Gelingt dies nicht und auch kein anderer Konsens, müsste Großbritannien die EU nach Mays Darstellung um eine viel längere Verschiebung bitten und auch an der Europawahl teilnehmen. Und je länger der Aufschub, desto wahrscheinlicher wäre eine Abkehr vom Brexit. Diese Aussicht, so hofft May offenbar, könnte ausreichend viele Brexit-Hardliner so verschrecken, dass der Deal doch noch durchgeht. (dpa)

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