Das große Beben

„Papa, bringe mich zu meinen Brüdern“, ruft Fátima. Der Vater schließt seine Tochter fest in den Arm und atmet schwer. Einer seiner Söhne ist tot, der andere wird noch vermisst. Mindestens 32 Kinder kommen ums Leben, als das schwere Erdbeben am Dienstag die Schule Enrique Rébsamen im Süden von Mexiko-Stadt einstürzen lässt. Die ganze Nacht versuchen Rettungskräfte, Eltern und freiwillige Helfer, weitere Kinder zu bergen.

Noch immer dringen Geräusche aus den Trümmern. „Wir stehen in Kontakt mit einer Lehrerin. Sie ist verschüttet und sagt, bei ihr ist ein Schüler, der noch am Leben ist“, sagt Marine-Sprecher José Luis Vergara. „Wir tun alles, um sie lebend zu bergen.“

Das Erdbeben der Stärke 7,1 überrascht die Millionenmetropole Mexiko-Stadt zur Mittagszeit. Kein Alarm warnt die Menschen, bevor um 13.14 Uhr plötzlich die Erde bebt. Hochhäuser schwanken hin und her, in den Wänden tun sich Risse auf, Gasleitungen platzen, Häuser stürzen ein. Fassadenteile und Fenster stürzen krachend zu Boden. Panisch rennen die Menschen auf die Straße, viele weinen.

Es ist ein gespenstisches Bild, als das Beben nachlässt. Rauchschwaden hängen über der Skyline, Staub liegt in der Luft. Zwei Stunden zuvor fanden noch große Evakuierungsübungen in Bürogebäuden, Schulen und Krankenhäusern statt, wie jedes Jahr am 19.September. Es ist der Jahrestag des „Jahrhundertbebens“ vom 19. September 1985, als Tausende Menschen ums Leben kamen: Die Angaben zur Zahl der Toten variieren, Schätzungen in Mexiko gehen meist von rund 10.000 aus. Nun wird aus dem Testfall bitterer Ernst. Und wieder trifft es Mexiko-Stadt hart.

Schwer beschädigte Krankenhäuser müssen evakuiert werden. Unter freiem Himmel werden Verletzte mit Infusionen versorgt. Überall liegen Menschen in den Trümmern, mit bloßen Händen wird gesucht. „Meine Familie wohnt in diesem Gebäude“, schreit eine verzweifelte Frau. „Ihre Namen sind nicht auf der Liste, sie stehen da nicht drauf“, ruft sie verzweifelt, als sie die Namen von 16 geretteten Menschen liest. „Wir wissen nicht, wie viele noch in den Trümmern sind“, sagt eine Polizistin auf der Avenida Nuevo León zu ihr. Vier Lastwagen mit Rettungskräften kommen angefahren, Freiwillige packen überall mit an.

Staatspräsident Enrique Peña Nieto hatte noch wenige Stunden zuvor in einem Trauerakt an die Opfer von 1985 erinnert, nun überfliegt er im Helikopter die schwer getroffene Hauptstadt. Er muss ahnen, dass die Opferzahl sehr hoch sein könnte. Stündlich steigt die Zahl der Toten, erst sind es sieben, dann über 40, 77, dann 120, dann 150, schließlich rund 220. Gerade in eingestürzten Hochhäusern ist es ein Wettlauf gegen die Zeit. „Mein Beileid gilt jenen, die einen geliebten Menschen verloren haben. Mexiko teilt euer Leid“, sagt Präsident Peña Nieto. „Dieses Beben ist eine harte und schwere Probe für unser Land. Die Mexikaner haben schon schlimme Erfahrungen mit Erdbeben gemacht. Gemeinsam werden wir diese neue Herausforderung meistern.“ Inmitten des Chaos müssen sogar zwei beschädigte Gefängnisse im Bundesstaat Puebla evakuiert und Gefangenentransporte organisiert werden. Der wirtschaftliche Schaden der Katastrophe ist noch nicht abzusehen.

US-Präsident Donald Trump, der die Mexikaner sonst mit Vorliebe attackiert und eine Grenzmauer zum Schutz vor Drogendealern und Migranten errichten lassen will, twittert: „Gott segne die Menschen in Mexiko-Stadt. Wir sind bei Euch und werden für Euch da sein.“

Mexikos Innenminister Osorio Chong ruft dazu auf, das Handynetz nicht zu strapazieren, man brauche es für Notrufe. Der Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Miguel Ángel Mancera, teilt mit, dass wie bei Terroranschlägen der Safety Check von Facebook aktiviert worden sei, damit Angehörige sich vergewissern können, ob ihre Liebsten in Sicherheit sind. In der Metropole und im Umland leben über 20 Millionen Menschen, ein lange trainierter Notfallplan läuft an.

Mexiko befindet sich in einer der aktivsten Erdbebenzonen – gegen die Kraft der Natur lassen sich kaum absolut erdbebensichere Hochhäuser bauen. Das Zentrum des Bebens liegt rund 130 Kilometer südöstlich bei Axochiapan. Erst vor knapp zwei Wochen bebte die Erde, damals lag das Zentrum aber im Pazifik, 98 Menschen starben, vor allem im Süden des Landes.

Stündlich steigt die Zahl der Toten, erst sind es sieben, dann über 40, 77, dann 120, dann 150, schließlich rund 220.

Videos vom aktuellen Beben zeigen schreiende Eltern und ihre Kinder in schwankenden Wohnungen, Kommoden stürzen um, Lampen fallen von der Decke. Minutenlange Todesangst. „Unser Gebäude hat geschwankt wie ein Baum in Wind“, berichtet Javier Londoño, der in einer Bank arbeitet. „So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Im Viertel Cuauhtémoc wird ein mehrstöckiges Wohnhaus evakuiert. Tiefe Risse ziehen sich an der Fassade entlang. „Wo sollen wir denn heute schlafen?“, fragt Bewohnerin Veronica Sandoval. „Ich habe nichts bei mir. Nur meine Kleidung und meine Hausschlüssel.“ Ob sie jemals zurückkehren kann, ist fraglich. Wie groß die Schäden sind, wie viele Häuser verloren, das lässt sich zunächst nur erahnen. „Ich habe zu Gott gebetet. Ich dachte, jetzt geht es zu Ende“, sagt Stephanie Morales. „Ich kann meinen Mann nicht erreichen“, sagt eine Frau mit tränenerstickter Stimme. An der Geschäftsstraße Paseo de la Reforma tritt Gas aus.

Tausende Menschen suchen Abstand zu den hohen Bürogebäuden. Die Angst vor Nachbeben ist groß, die Lage chaotisch. Das Handynetz bricht zusammen, 3,8 Millionen Menschen sind zeitweise ohne Strom. Der internationale Flughafen stellt den Betrieb ein. „Wir haben gerade Brot gebacken, als alles anfing zu wackeln. Die Fenster zerbrachen und die Öfen“, sagt der Bäcker Pedro Sandoval. Norma Medina aus dem Stadtteil Nochebuena denkt sofort an das Riesenbeben von 1985. Sie kann sich auch dieses Mal retten und berichtet mit staubverschmiertem Gesicht: „Alles vibrierte, die Möbel, die Fenster. Es erinnerte mich an das Beben von 85“, sagt sie. „Und ausgerechnet heute war zuvor noch eine Übung für den Fall eines solchen Erdbebens.“ Die große Evakuierungsübung war gerade abgeschlossen, als die echte Katastrophe über Mexiko hereinbrach. (dpa)