China: Wie die Partei das Internet lieben lernte

<p>Mit Xi Jinping herrscht seit 2013 ein Parteichef, der über fast schrankenlose Macht verfügt.</p>
Mit Xi Jinping herrscht seit 2013 ein Parteichef, der über fast schrankenlose Macht verfügt. | dpa

Am 4. Juni jährt sich das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens in Peking zum 30. Mal. Studenten, Arbeiter, Bürger hatten in der chinesischen Hauptstadt für Demokratie und Freiheit, gegen Korruption und Vetternwirtschaft demonstriert, die Stimmung im Sommer 1989 war ausgelassen und euphorisch. Der Rausch währte nur kurz, die Kommunistische Partei ließ Panzer rollen und den „konterrevolutionären Aufruhr“ niederschlagen. Die Welt war geschockt. Der 4. Juni – ein epochales geschichtliches Ereignis – in China ist es vergessen. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie die Führung des Landes die Geschichte und das Denken manipuliert. Wie ist das möglich in Zeiten des Internets?

Kai Strittmatter beschreibt in seinem Buch „Die Neuerfindung der Diktatur – Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert“, wie die Regierung auf die Technologien des 21. Jahrhunderts wie Big Data und künstliche Intelligenz setzt. Ziel ist ein perfekter Überwachungsstaat. Bei einem Erfolg wäre es „die Rückkehr des Totalitarismus im digitalen Gewande“. Der Autor ist Sinologe und war jahrelang für die „Süddeutsche Zeitung“ in China. Der Journalist sieht die Welt an einem Wendepunkt, schreibt von der „Rückkehr der schamlosen Lüge“, von Autokraten und Populisten, der Wahl Donald Trumps. Und er fordert den Leser auf, nach China zu blicken. Mit Xi Jinping herrscht dort seit 2013 ein Parteichef, der über fast schrankenlose Macht verfügt und nach einer Änderung der Verfassung Präsident auf Lebenszeit werden könnte. Xi schottet China wieder ab, schließt Freiräume. Dem Technokraten geht es um Kontrolle, er beansprucht für sein Land eine Führungsrolle und sieht es als ideologischen Gegner des Westens.

Kenntnisreich verweist der Autor auf die Geschichte, um das moderne China zu erklären: Das reicht vom ersten Kaiser über Konfuzius bis zu Mao Tsetung. Im Abschnitt „Das Netz – Wie die Partei das Internet lieben lernte“ beschreibt Strittmatter, wie Optimisten glaubten, dass eine Zensur schlicht unmöglich wäre. Stichwort: Twitter-Aufstand in Tunesien, Facebook-Revolution in Ägypten. In China sind Twitter und Facebook verboten, Sina Weibo heißt die chinesische Twitter-Version, auf der eine Zeit lang Informationen über Lebensmittelskandale, Umweltverschmutzung und Polizeigewalt ausgetauscht werden konnten. Strittmatter zitiert den Schriftsteller Murong Xuecun: „Mit Weibo fingen die Leute an, nachzudenken.“ Bald ist damit wieder Schluss: Mit den klassischen Mitteln Einschüchterung, Zensur, Propaganda gelingt es der Diktatur, den Keim einer Zivilgesellschaft zu ersticken. Peking schafft es nicht nur, das Internet 2013 zurückzuerobern, sondern es zu instrumentalisieren.

Die Machthaber scheinen sich vor dem World Wide Web nicht zu fürchten, im Gegenteil: Sie bauen die Infrastruktur aus und zeigen wie das geht, „die Zähmung des Netzes“. Mit mehr als 770 Millionen Nutzern hat China die größte Internetgemeinde weltweit, aber wohl am wenigstens Freiheit im Netz. Strittmatter erläutert, wie ein „gewaltiger Apparat“ den Alltag der Zensur organisiert und wie das Land ein Internet gebaut hat „mit einer von der Welt komplett unabhängigen Hard – und Software“. Es sei mehr Intra- als Internet. Eine perfekte Zensur gebe es zwar nicht, aber sie funktioniere auch so, wenn sie Teil eines Systems aus „Gedankenkontrolle und Manipulation“ sei. Und die meisten Menschen überhaupt nicht mehr darauf kämen, „es könne sich lohnen, hinter die Mauer zu sehen“. In weiteren Kapiteln geht es um künstliche Intelligenz und das bis 2020 geplante Sozialpunktesystem, das zwischen guten und schlechten Bürgern unterscheiden soll und auf Big Data setzt.

Eine weitere Stärke des differenzierten und klar geschriebenen Buchs ist, dass Strittmatter immer wieder fragt, welche Rolle wir spielen und was die Entwicklungen im vermeintlich fernen China für uns bedeuten. Der Westen müsse sich vom Wunschdenken verabschieden, Handel bringe Wandel und damit eine politische Liberalisierung Chinas.

Der Journalist kritisiert westliche Unternehmen, die sich der Zensur beugen oder die Überwachung technisch unterstützen. Peking setze auf die Zerstrittenheit und Schwäche unserer Demokratien, die Propaganda zeichne das Bild eines liberalen Westens, der in Krisen und Chaos versinke. Strittmatter appelliert an Europa, sich auf die Leuchtkraft seiner Ideen zu besinnen und seine Naivität abzulegen. Denn trotz aller Überwältigung und Kontrolle fürchte Peking noch immer die Anziehungskraft und die Werte der westlichen Demokratien. (dpa)

Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur – Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert, Piper Verlag München, 288 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-492-05895-7

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