Anti-EU-Referendum in Ungarn

Seit Wochen ist Ungarn im verschärften Wahlkampf. Noch in den entlegensten Stadtvierteln und Dörfern trichtern Großplakate der rechts-konservativen Regierung den Bürgern ein: „Riskieren wir nichts! Stimmen wir mit Nein! 2. Oktober“. Das Nein gilt der EU-Flüchtlingspolitik, genauer: den Quoten, mit denen die Union einen Teil der nach Europa gekommenen Asylbewerber auf die Mitgliedsstaaten verteilen will.

Ministerpräsident Viktor Orban ist ein strikter Gegner der Aufnahme von Migranten und Flüchtlingen. „Migration ist Gift“, pflegt er zu sagen. Migration ziehe Terrorismus nach sich, muslimische Einwanderermassen würden die christliche und nationale Identität der Völker Europas zerstören. An Ungarns Grenzen zu Serbien und Kroatien stehen stacheldrahtbewehrte Zäune, um „illegale Einwanderer“ – so die Budapester Sprachregelung – abzuwehren.

Ein Referendum ist in Ungarn nur dann gültig, wenn mindestens die Hälfte der Wahlberechtigten eine gültige Stimme abgibt.

Bei der Volksabstimmung am Sonntag sind rund acht Millionen Ungarn dazu aufgerufen, die umständlich klingende Frage zu beantworten: „Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Zustimmung des Parlaments die verpflichtende Ansiedlung von nicht ungarischen Staatsbürgern in Ungarn vorschreiben kann?“

Doch Orban pokert hoch. Denn ein Referendum ist in Ungarn nur dann gültig, wenn mindestens die Hälfte der Wahlberechtigten eine gültige Stimme abgibt. Bei Volksabstimmungen lassen sich in der Regel nicht so viele Wähler mobilisieren.

Tatsächlich läuft die Wahlkampfmaschinerie des Regierungslagers auf Hochtouren. Schon vor anderthalb Jahren begann eine Plakat-Kampagne der Regierung, die den Bürgern einredete, dass Einwanderer dem Land schaden würden. Auf zahllosen Bürgerforen spielen Fidesz- und Regierungspolitiker auf der Klaviatur der Angstmache und Einschüchterung. Den Gemeinden wird angedroht, dass sie Migranten aufnehmen müssen, wenn sie keine ausreichende Wahlbeteiligung vorweisen können. Den Roma – so wird suggeriert – werde wiederum die Sozialhilfe weggenommen, wenn die EU dem Land Migranten „aufzwingt“.

Parlamentspräsident Laszlo Köver, einer der Fidesz-Gründerväter, verkündete in Jaszbereny, einer Kleinstadt östlich von Budapest, dass die Integration der Ausländer in Deutschland gescheitert sei. Als „Beweis“ führte er den türkischstämmigen Fußballer Mesut Özil an: „Er singt vor Länderspielen die deutsche Hymne nicht mit.“

Von einem erfolgreichen Referendum erwartet sich Orban eine weitere Stärkung seiner Macht.

Das trifft weniger auf Ungarn zu, wo ihm eine kraftlose und zersplitterte Opposition kaum mehr Paroli bieten kann. Vielmehr sieht sich der ungarische Regierungschef längst schon als europäischer Player. Tatsächlich ist er etwa mit seiner Forderung nach Errichtung einer „gigantischen Flüchtlingsstadt“ im libyschen Wüstensand oder nach einer Massenausweisung von Einwanderern die wohl schrillste Stimme im europäischen Konzert.

Die EU-Kommission bemühte sich vor dem Referendum demonstrativ, derlei Töne nicht zu vernehmen. „Wir sorgen uns nie, wenn eine Volksabstimmung stattfindet“, sagte EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos diese Woche – gerade einmal ein Vierteljahr nach dem Brexit-Referendum, dessen Folgen Europa noch lange auf Trab halten werden.

Aus Sicht der Brüsseler Behörde geht es ohnehin nicht um eine Abstimmung über bereits getroffene, sondern allenfalls über künftige Entscheidungen. Ob die Beschlüsse zur Umverteilung von bis zu 160 000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland noch einmal so fielen, ist aber auch fraglich. Zumindest die EU-Kommission, die viele Entscheidungen vorbereitet, übte sich zuletzt in neuer Bescheidenheit. „Solidarität muss freiwillig sein. Manche tragen mit der Aufnahme von Flüchtlingen bei, andere durch Grenzmanagement“, sagte Behördenchef Jean-Claude Juncker jüngst.

Orban, der sich gerne zum „Burgkapitän der letzten Festung Europas“ stilisiert, ist für null Aufnahme und maximales „Grenzmanagement“. Damit glaubt er, das „wahre Wollen“ auch der Mehrheit der Bürger Westeuropas zu artikulieren. Eine gültige Volksabstimmung wird ihn in diesem Glauben bestärken – und in seinen Bemühungen, sich auf der europäischen Bühne eine Hauptrolle zu sichern. (dpa)