Michel bietet Rücktritt an - König gönnt sich Bedenkzeit

Premier Michel fuhr am Abend direkt vom Parlament zum Palais, um dem König den Rücktritt seiner Regierung anzubieten. Pressefotografen und Kameraleute warteten ihn am Eingangstor zum Schloss auf. Foto: Photo News | PHOTONEWS



Seit mehr als zehn Tagen hat die Föderalregierung nach dem Ausstieg der N-VA keine Mehrheit mehr im Parlament (52 von 150 Sitzen). Das definitive Aus schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Bei einem letzten Rettungsversuch schlug Premier Michel dem Parlament am Dienstagnachmittag in der Kammer einen Nothaushalt in Form von sogenannten „provisorischen Zwölfteln“ vor, „um die Kontinuität zu gewährleisten und die notwendige Politik betreiben zu können“, und reichte der linken Opposition somit die Hand. Statt vorgezogener Neuwahlen, die das Land das ganze Jahr 2019 in Immobilität stürzen würde, und einer neuen Mehrheit plädierte er für einen „dritten Weg“ aus der Krise: eine „Koalition des guten Willens“, eine Zusammenarbeit zwischen der Minderheitsregierung und den „positiven Kräften“ des Parlaments rund um Kaufkraft, Sicherheit und Klima/Energie. „Es ist keine Tradition in Belgien, wohl aber in 13 anderen europäischen Ländern“, so der Premier. Diese Lösung müsse zeitlich begrenzt sein, aber sie werde ja durch die Wahlen begrenzt, die ohnehin im nächsten Jahr stattfinden würden, sagte Michel. Gemeinsam mit dem Parlament wolle seine Regierung prüfen, wie die Energierechnung reduziert werden könne. Auch wolle er die Sozialzulagen anheben, die Steuerreform (Tax Shift) weiter ausführen und die Kaufkraft im Allgemeinen erhöhen.

Eine Zusammenarbeit der Minderheitsregierung mit dem ehemaligen Koalitionspartner N-VA kam für Michel zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Frage. Er bekräftigte, dass die Bedingungen der N-VA inakzeptabel seien: Sie würden das Land in ein neues konföderales Abenteuer stürzen und könnten vorgezogene Wahlen zur Folge haben.

Der Versuch des Premiers, die linken Oppositionsparteien zu überzeugen, sein Minderheitskabinett zu unterstützen, schlug schließlich fehl. Das Ende seiner Regierung war unvermeidlich geworden: Die Sozialisten (SP.A und PS) reichten nach einer Sitzungsunterbrechung einen Misstrauensantrag ein und wurden dabei von den Grünen unterstützt. Michel wartete die Abstimmung über diesen Antrag (am Donnerstag) erst gar nicht ab, sondern kündigte bei Wiederaufnahme der Sitzung an, dass er sofort zum Palais fahre, um dem König den Rücktritt seiner Regierung anzubieten. Wörtlich sagte er: „Ich hatte die Gelegenheit, auf der Rednertribüne meinen Vorschlag zu äußern und einen Aufruf zu lancieren. Das war meiner Meinung nach ein ehrlicher und überzeugender Appell und Vorschlag im Interesse unseres Landes und der Bürger. Aber ich muss feststellen, dass dieser Aufruf nicht überzeugt hat. Während der Sitzungsunterbrechung habe ich verstanden, dass dieser Appell nicht gehört wurde. Ich muss das respektieren und nehme das zur Kenntnis. Ich habe beschlossen, meinen Rücktritt anzubieten, und werde sofort zum König gehen.“

Gaben die flämischen Liberalen den letzten Schub zum Rücktritt?

Unter dem Applaus der Mehrheitsfraktionen verließ Michel das Halbrund, nicht ohne die Hände der Regierungsmitglieder geschüttelt zu haben. Der König traf am Abend nicht sofort eine Entscheidung, sondern gönnte sich Bedenkzeit. Ab diesem Mittwoch wird er die Parteivorsitzenden in Audienz empfangen, um die Lage zu erörtern. Wenn er den Rücktritt annimmt, hat der König zwei Optionen: Er löst das Parlament auf, was vorgezogene Neuwahlen zur Folge hat, oder, was am wahrscheinlichsten ist, die Regierung Michel ist bis April, wenn das Parlament sowieso für die Wahlen Ende Mai aufgelöst wird, geschäftsführend tätig. Geschäftsführend bedeutet, dass diese Regierung nur noch begrenzte Handlungsmöglichkeiten hat. Neue politische Initiativen darf sie nicht mehr ergreifen. Das hat Auswirkungen auf eine Reihe von Dossiers, wie Ernennungen oder Jobdeal. Keine Genehmigung des Haushalts und eine geschäftsführende Tätigkeit bedeuten auch, dass die Regierung mit „vorläufigen Zwölfteln“ arbeiten muss, d. h. sie darf pro Monat nur noch ein Zwölftel des vorigen Gesamthaushalts (2018) ausgeben. Darüber wird am Mittwoch im Finanzausschuss und am Donnerstag im Plenum abgestimmt.

Es ist durchaus möglich, dass die Regierungspartei Open VLD „den letzten Schub gab“, um den Premierminister dazu zu bringen, den Rücktritt seiner Regierung anzubieten. Parteichefin Gwendolyn Rutten hatte nämlich einen Tweet in die Welt geschickt, in dem sie mit der Öffnung Michels nach links nicht einverstanden zu sein schien. „Die Regierung ist unter dem Druck der N-VA zerbrochen, und heute Abend unter der Open VLD“, bestätigte PS-Parteichef Elio Di Rupo. „Ab diesem Augenblick war der Rücktritt unvermeidlich.“ Für den Rücktritt trage nicht die Opposition die Verantwortung, sondern einzig der Premierminister. „Nicht die Opposition hat viereinhalb Jahre lang regiert und vor allem im französischsprachigen Landesteil so viel soziale Unruhe verursacht“, so Di Rupo, der kein Befürworter vorgezogener Neuwahlen ist.

Laut MR-Vizepremier Didier Reynders hatte Michel keine andere Wahl, als dem König seinen Rücktritt anzubieten. Die Verantwortung für den Rücktritt tragen in seinen Augen die Grünen. CD&V-Vizepremier Kris Peeters bedauerte die Hinterlegung des Misstrauensantrags, nachdem die Regierung sich den linken Parteien geöffnet habe: „Meine Partei hat keine Angst vor vorgezogenen Wahlen. Aber jetzt ist es an der Zeit, dass wir schauen, welche die beste Lösung im Interesse der Bürger und Unternehmen ist.“

N-VA-Fraktionschef Peter De Roover meinte, er „spüre keinerlei Euphorie“ über das Rücktrittsangebot. Der Premier habe „während zwei oder drei Wochen um den heißen Brei geredet“, meinte Ecolo-Copräsident Jean-Marc Nollet. „Jetzt ist die Lage klar, es gab kein Vertrauen mehr.“

Kammerdebatte

Bei der Plenardebatte am Dienstag hatte der Fraktionschef der Grünen, Kristof Calvo (Groen), vom Leder gegen den N-VA-Parteipräsidenten und Kammerabeordneten Bart De Wever, der vergangenen Freitag im VRT-Fernsehen eine Kriegserklärung abgegeben habe, indem er den Premierminister seine Marionette nannte. Im Austausch einer Zusammenarbeit mit den Grünen schlug Calvo der Regierung einen „Empfehlungsantrag“ vor. Er appellierte an eine Zusammenarbeit zwischen der Minderheitsregierung und einer „Koalition der Willigen“ anstelle einer Zusammenarbeit mit der N-VA, die sich seiner Meinung nach bereits im Wahlkampfmodus befinde. Calvo stellte den Premierminister vor die Wahl: „Entweder Sie nehmen unsere ausgestreckte Hand an und korrigieren den Kurs Ihrer Politik, oder Sie zwingen uns, einen Misstrauensantrag zu unterstützen, sodass Sie den Weg zum König antreten können.“ Die „ausgestreckte Hand“ enthielt folgende Forderungen: Aufgabe des Plans, die Degressivität des Arbeitslosengeldes zu beschleunigen, Anhebung der Sozialzulagen auf die Höhe der Armutsgrenze, Abschaffung der von Theo Francken eingeführte Asylquote sowie ehrgeizigere Klimaziele. Die Grünen wären demnach bereit, dem Premier aus der Patsche zu helfen, aber ihre alleinige Unterstützung hilft ihm nichts, da sie in der Kammer nur über zwölf Sitze verfügen.

PS-Fraktionspräsident Ahmed Laaouej hatte die Regierung aufgefordert ihren Kurs zu ändern: u. a. Senkung der MwSt. auf Strom und Heizöl von 21 auf 6 %, Senkung der Akzisen auf Benzin und Dieselkraftstoff, Rückführung des gesetzlichen Rentenalters auf 65 Jahre, Mindestpension von 1.500 Euro netto im Monat für eine vollständige Laufbahn sowie eine Lohnmarge, die einen Mindeststundenlohn von 14 Euro garantiert.

Der Ex-N-VA’er Hendrik Vuye (Vuye & Wouters) gab sich zynisch. „Die N-VA steht mit leeren Händen da. Zuerst hat sie die Regierung in Brand gesetzt und jetzt den Haushalt. Das ist anscheinend die neue Kraft des Wandels.“ Raoul Hedebouw von der linksradikalen PTB sagte: „Die Regierung ist tot. „Es ist Zeit, dass der Vorhang fällt.“