Ist der deutsche Föderalismus noch zeitgemäß?

Mit seinem Ruf nach mehr Sicherheitskompetenzen für den Bund hat de Maizièrer vor allem die Länder verärgert. Von einem „Frontalangriff auf das föderale Prinzip der Bundesrepublik“ war die Rede, von einer „Gefahr für die demokratische Grundordnung“, gar vom „Einstieg in einen autoritären Polizeistaat“.

Dabei ist die Debatte nicht neu. Schon 2004 hatte der damalige Innenminister Otto Schily als Antwort auf Terror und Organisierte Kriminalität eine Zentralisierung des Verfassungsschutzes gefordert. Die bisherige föderale Struktur sei ein „Sicherheitsrisiko“, warnte er.

Dass der Aufschrei bei solchen Vorstößen groß ist, muss nicht wundern. Denn die Diskussion rührt an die Grundfesten der ausgeklügelten Machtbalance zwischen Bund und Ländern.

„Die Zuständigkeit für Polizei und Innere Sicherheit gehört zu den Kernkompetenzen der Bundesländer“, sagt die Politologie-Professorin Sabine Kropp von der Freien Universität Berlin in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. „Insofern ist die Frage: Wie weit kann man den Ländern Kompetenzen wegnehmen oder sie aushöhlen, ohne das föderale System aufzugeben?“

Dass der sperrige Begriff Föderalismus (vom lateinischen foedera: Bünde, Verträge) in Deutschland so hoch geschätzt wird, hat historische Gründe. Das System reicht bis weit in die deutsche Geschichte zurück, letztendlich bis ins Mittelalter mit seinen Stadtstaaten und Fürstentümern. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es als Lehre aus der NS-Zeit von den westlichen Siegermächten wiederbelebt – als Garant gegen Machtmissbrauch.

Nie mehr sollte nach der Schreckensherrschaft der Nazis und dem Völkermord an sechs Millionen Juden wieder ein zentralistischer Einheitsstaat auf deutschem Boden möglich sein. Gerade im Sicherheitsbereich war die Rolle der allmächtigen Geheimen Staatspolizei (Gestapo) das abschreckende Beispiel. Das Grundgesetz schreibt deshalb unwiderruflich die Gliederung des Staates in Länder vor. Die Macht des Bundes ist durch die Rechte der Länder begrenzt.

Der Föderalismus als Garant gegen Machtmissbrauch

Auch in der Sowjetischen Besatzungszone wurden nach dem Krieg die Länder neu gegründet, allerdings alsbald 1952 wieder abgeschafft, um die Herrschaft der Staatspartei SED zu stärken. Erst nach der Wiedervereinigung bekamen die fünf Länder Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sowie das wiedervereinigte Berlin eigenstaatliche Rechte.

Allerdings sind nach Ansicht des Erlanger Politologen Roland Sturm („Der deutsche Föderalismus“) die Grundsätze längst ausgehöhlt. So hätten die Länder schon seit Jahrzehnten kaum mehr Zugriff auf eigene Steuerquellen. Mit der Verpflichtung auf die Schwarze Null im Etat seien sie seit der Föderalismusreform 2009 nicht mal mehr Herr ihrer Ausgaben, kritisiert der entschiedene Föderalist.

Er spricht von einem Henne-Ei-Problem. „Erst verlieren die Länder Kompetenzen und Geld, und dann wird ihnen vorgeworfen, sie seien handlungsunfähig.“ Für die Gesellschaft bedeute das weniger Bürgernähe, weniger Transparenz, weniger Rücksicht auf regionale Besonderheiten. „Der Staat verliert ständig an demokratischer Qualität“, meint der Wissenschaftler Sturm.

Tatsächlich ist das Selbstverständnis Deutschlands als Kulturnation bis heute von der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Regionen geprägt. Vom alpenländischen Schuhplattler bis zum Wuppertaler Ausdruckstanz, vom rheinischen Karneval bis zur Berliner Love Parade – all das macht gerade in seiner Buntheit und manchmal skurrilen Mischung viel vom Lebensgefühl der Deutschen aus.

Kritiker des Föderalismus sehen in der Kleinstaaterei jedoch auch entscheidende Nachteile. Die Mitsprache der starken Länderfürsten über den Bundesrat führt zu oft monatelangen, lähmenden Vermittlungsverfahren, die Entscheidungswege sind lang und kompliziert, und die Doppelstrukturen in Land und Bund machen die Verwaltung teuer.

Mehrfach gab es deshalb Bestrebungen, kleinere Bundesländer zusammenzulegen – bis auf die Gründung von Baden-Württemberg 1952 ohne Erfolg. 1996 scheiterte die bereits beschlossene Fusion von Berlin und Brandenburg am mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung. 2003 schlug der damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck glücklos ein Zusammengehen seines Landes mit dem Saarland vor. Und auch eine Vereinigung von Bremen und Niedersachsen oder Hamburg und Schleswig-Holstein stößt auf wenig Begeisterung.

„Die Deutschen leben in einer paradoxen Föderalismuswelt“, sagt Professor Sturm mit Hinweis auf zahlreiche empirische Erhebungen. „Jeder findet die Länder gut und wichtig. Aber im Zweifelsfall sollen alle politischen Entscheidungen am liebsten auf Bundesebene fallen.“

Besonderer Knackpunkt ist dabei seit jeher die Bildungspolitik. Von Anfang an war im Grundgesetz die Kulturhoheit der Länder festgeschrieben. Nach jahrelanger innenpolitischer Debatte wurde sie 2006 noch um ein ausdrückliches Kooperationsverbot ergänzt. Die Länder hatten damit in der Schul- und Hochschulpolitik allein den Hut auf, der Bund durfte noch nicht einmal Geld geben.

„Besser wäre es, die Kooperations- und Kommunikationsstrukturen zu optimieren.“

Seither hat sich das deutsche Schulwesen mehr noch als bisher zu einem wahren Flickenteppich entwickelt. Jedes Land experimentiert mit unterschiedlichen Schulformen, Kurs- und Stufensystemen, zwölf- und dreizehnjährigem Abitur munter vor sich hin. Längst klagen Eltern, dass sie mit ihren Kindern nicht mehr von einem Bundesland ins andere ziehen können, die Wirtschaft beschwert sich über nicht vergleichbare Abschlüsse.

Dennoch ist die Kulturhoheit für die Länder bislang eine ähnlich heilige Kuh wie die Innere Sicherheit. Nicht zuletzt machte auch das die Einigung auf einen neuen Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern so schwierig.

Erst nach zweijährigen Verhandlungen verständigten sich beide Ebenen Ende vergangenen Jahres darauf, dass die Länder ab 2020 jährlich insgesamt gut 9,75 Milliarden Euro mehr aus der Bundeskasse erhalten. Der Bund bekommt im Gegenzug mehr Gesetzgebungskompetenzen etwa bei Fernstraßen und in der Steuerverwaltung – aber auch bei Investitionen in Schulen.

Für Professorin Kropp, die sich seit Jahren mit dem Politischen System der Bundesrepublik beschäftigt, muss mehr Mitsprache des Bundes jedoch nicht notwendig mehr Zentralismus heißen. „Manche Experten halten eine Rückkehr zur sogenannten Politikverflechtung für sinnvoller“, sagt sie. „Danach würden Bund und Länder stärker gemeinsam planen, finanzieren und durchführen. Der Punkt wäre aber, den Bund verpflichtend in diese Aufgaben einzubinden.“

Und was heißt das für die neuen Herausforderungen durch den internationalen Terrorismus? Die Vizepräsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), Ines Härtel, ist skeptisch, ob de Maizières Vorschlag zu einer zentralen Verfassungsschutzbehörde tatsächlich helfen würde.

„Besser wäre es, die Kooperations- und Kommunikationsstrukturen zu optimieren“, sagt die Verwaltungsrechtlerin. „Vor Ort haben die jeweiligen Bundesländer bessere Möglichkeiten, verfassungsschutzbezogene Erkenntnisse zu erlangen. Diesen Vorteil des Föderalismus sollte man nicht aufgeben.“ Nach der Flüchtlingswelle im vergangenen Jahr habe man gesehen, dass solche Verbesserungen möglich seien.