Marseille wird eine hippe Modestadt


Von Bernd F. Meier

Mode aus Marseille? Vor einigen Jahren war das noch kein Thema, heute gibt es in der Metropole am Mittelmeer eine lebendige Modeszene. Junge Designer eröffnen neue Läden und entdecken dabei auch Viertel abseits der klassischen Touristen-Hotspots.

Freunde hatten ihr geraten: Komm nach Marseille, da geht die Post ab. Dass sie diesem Ratschlag gefolgt ist, hat Sarah Jeannot bis heute nicht bereut: „In Nizza habe ich als Guide im Tourismus gearbeitet, hier in Marseille setze ich als Schmuckdesignerin meine eigenen Ideen um.“ In der engen Rue Bussy l’Indien hat die junge Frau vor zwei Jahren ihr kleines Atelier eröffnet. Die Fertigung des Silberschmucks hat sich die 30-jährige Sarah selbst angeeignet: „Ich bin Autodidaktin.“

Nur wenige Schritte weiter können Modebewusste Freddy Allouche treffen. Der 60-jährige Designer führt den Shop mit seiner eigenen Modelinie Tata Zize schon seit 25 Jahren im Stadtviertel nahe des weitläufigen Platzes Cours Julien, am östlichen Rand des Marseiller Zentrums. Touristen verirren sich selten in die Rue Bussy l’Indien, die Gasse ist auf manchen Stadtplänen nicht mal verzeichnet. Doch Allouche ist felsenfest überzeugt: „Am Cours Julien schlägt das wahre Herz von Marseille und nicht im Panier-Viertel, wie so viele meinen.“

Ob sich Freddy da nicht irrt? Das Panier, zwischen altem Hafen Vieux Port und den Kais der Fähren und Kreuzfahrtschiffe gelegen, ist das älteste Stadtviertel Marseilles. Handtuchschmale Gassen, steile Treppenaufgänge und lauschige kleine Plätze kennzeichnen das lebendige Quartier, das als Stätte der ersten Besiedlung Marseilles gilt.

Noch vor Jahren wurden Touristen in der Reiseliteratur wegen hoher Kriminalität vor dem Besuch im Panier gewarnt. Das hat sich geändert: Das Panier ist heutzutage Flanierviertel mit Restaurants, Café-Terrassen und Modeshops, aufgehübscht und angesagt.

Marseille zieht an–, die ganz Jungen ebenso wie die Älteren. „Keine Haute Couture wie aus Paris, sondern Bekleidung in unserem mediterranen Lifestyle. Das sind leichte und luftige Stoffe, farbenfrohe T-Shirts und Sommerkleider, alles sehr casual.“ So beschreibt Pascale Akiki vom Maison Méditerranéenne des Métiers de la Mode den südfranzösischen Modestil.

Das MMMM ist eine Art Vereinigung des Modehandels. Mode-Expertin Akiki nennt auch gleich einige Zahlen: Rund 19 000 Beschäftigte arbeiten demnach in der Modeindustrie zwischen Avignon und Nizza, etwa 200 Designer haben in der Großregion ihre eigenen Modemarken geschaffen.

Es sollen noch mehr werden, verspricht die 36-jährige Akiki. Das MMMM vergibt Förderpreise an junge Nachwuchsdesigner für deren innovativste Entwürfe. Darüber hinaus bringt das Modeinstitut während der zweiten Maihälfte in der Villa Méditerranée eine Woche lang Modemacher, Einkäufer, Fotografen, Stylisten und Fachjournalisten zusammen. Bei Workshops, Laufsteg-Präsentationen und Fotosessions dreht sich alles um die Mode aus Marseille.

Der Treffpunkt steht symbolhaft für Aufschwung und Selbstbewusstsein der südfranzösischen Modemacher. Die leuchtend weiße Villa Méditerranée entstand ebenso wie die benachbarte kühne Architektur des Museums MUCEM (Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée – Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers) für das Jahr 2013, als Marseille europäische Kulturhauptstadt war.

„Dieses Jahr war eine Zeitenwende für Marseille. Seitdem hat sich in der Stadt eine Menge getan. Viele neue Shops wurden eröffnet, Marseille ist anziehend“, wirbt Mathieu Gamet für die südfranzösische Stadt. Er ist Präsident des MMMM. Sein Shop in einer Seitenstraße hinter dem Rathaus ist eine Mixtur aus Kaffeebar, Modeladen, Co-Workingraum und Tonstudio. Unter der Marke Kulte bietet Gamet Streetwear-Bekleidung zu bezahlbaren Preisen – T-Shirts, Jeans und Kapuzenshirts.

„Marseille ist ein großer Schmelztiegel vieler Nationen und Völker. Das spiegelt sich auch in unserer Mode wider“, erklärt Gamet. Um 620 vor Christus gründeten die Griechen den Ort, den sie Massalia nannten. Die Römer kamen danach, die West- und die Ostgoten, die Franken, Juden, Libanesen und Armenier folgten. In den 1960er Jahren siedelten Zehntausende Algerienfranzosen über, die nach der Unabhängigkeit Algeriens das Land verlassen mussten. Dazu kamen zahllose illegale Migranten aus Nordafrika in die geschäftige und laute Multikulti-Metropole am Mittelmeer. Sie landeten am Hafen, der während der letzten fünf Jahre sein Gesicht verändert hat– durch das Museum MUCEM, die Villa Méditerranée und die ehemaligen Lagerhallen am Quai de la Tourette. „Les Docks“ nennen sie heute das langgezogene Bauwerk, in dem über 60 Modeshops sowie Cafés und Bistros um Gunst und Geld der Modeflaneure wetteifern

Und wer auf Haute Couture steht, wechselt vorbei am alten Hafen Vieux Port ins sechste Arrondissement. In der Rue Rome und der Rue Paradis präsentieren Edelboutiquen den Pariser Chic, so manches Teil gewissermaßen zu paradiesisch hohen Preisen.

Marseille ist mit rund 850.000 Einwohnern nach Paris die zweitgrößte Stadt Frankreichs und wichtigste Hafenstadt des Landes. Marseille ist das Tor des Landes zu Nordafrika. Der Migrantenanteil ist verhältnismäßig hoch. Besonders in den nördlichen Vorstädten ist die Kriminalität aufgrund von Jugendarbeitslosigkeit und fehlenden Zukunftsperspektiven hoch. (dpa)