Agatha Christies Autobiografie liegt in deutscher Fassung vor



Agatha Christie (1890-1976) war gerade mal elf Jahre alt, als ihre beschauliche Welt um die Jahrhundertwende mit dem technischen Fortschritt in Gestalt einer lärmenden, ratternden Straßenbahn konfrontiert wurde. Dass ihre Anti-Tram-Zeilen (im Rahmen eines allgemeinen Bürgerprotestes) im Lokalblatt von Ealing (London) erschienen, ließ allerdings noch lange nicht auf ihre spätere außergewöhnliche Karriere schließen.

Es sollten noch fast 20 Jahre vergehen, bis ihr erster Kriminalroman „Das fehlende Glied in der Kette“ veröffentlicht wurde. Und noch ein paar Jahre mehr, bis sie mit „Alibi“ ihren Durchbruch hatte. 66 Kriminalromane, etliche Bühnenstücke, Erzählungen und Kurzgeschichten hat Agatha Mary Clarissa Christie Mallovan, geborene Miller, schließlich hinterlassen. Und nicht zuletzt ihre Autobiografie, die erstmals 1977 erschien – in einer Neuauflage nun auch in Deutsch mit einem Vorwort ihres Enkels Matthew Prichard.

Ein Glücksfall für jeden, der das fast 700 Seiten umfassende Opus in die Hände bekommt. Denn es macht mit einer liebenswerten einzigartigen Persönlichkeit bekannt und ist nicht weniger unterhaltsam, vergnüglich und spannend als ihre in aller Welt bekannten Detektiv- und Spionagegeschichten. Und nicht nur das. Die Britin lässt uns teilhaben an etwa 75 Jahren Lebenserfahrung und -weisheit, an erlebter und gelebter Geschichte, technischen Veränderungen, gesellschaftlichen Umwälzungen aufgrund zweier Weltkriege und regionaler Konflikte – vor allem auch im Nahen Osten, ein von ihr neben England bevorzugter Lebensraum.

Genau hier, im altorientalischen Nimrud im Irak, hat sie 1950 mit ihrer Autobiografie begonnen. Hier, wo ihr zweiter Ehemann Max Mallovan (1904-1978) archäologische Ausgrabungen leitete, an denen sie sich selbst beteiligte.

„Das Verlangen, meine Autobiografie zu schreiben, überkam mich ganz plötzlich in meinem Haus in Nimrud …“, bekennt sie am Ende. Sie habe sich an das erinnert, an das sie sich erinnern wollte. Im Umkehrschluss bedeutet das wohl, dass sie auch einiges weggelassen hat.

Lebenslauf sorgt fürbunte Memoiren.

So ist bekannt, dass die bereits sehr populäre Autorin für einige Tage spurlos verschwand, nachdem ihr erster Ehemann sie wegen einer anderen Frau verlassen hatte. Die Trennung und den Grund dafür verschweigt sie in der Biografie nicht, ihr anschließendes Untertauchen jedoch schon. Und das, obwohl ihre „Flucht“ für Aufsehen und Filmstoff („Das Geheimnis der Agatha Christie“) sorgte und an der polizeilichen Suchaktion auch Prominente wie Sherlock-Holmes-Vater Sir Arthur Conan Doyle beteiligt waren. Christies Verschwinden löste darüber hinaus unzählige mediale Spekulationen aus.

Streng chronologisch ist die Lebensgeschichte der Begründerin des modernen britischen Kriminalromans übrigens nicht, was durchaus von Vorteil ist. Das zeitweilige Hin und Her macht ihre ohnehin sehr bunten Memoiren noch lebendiger. Einen sehr großen Raum darin nimmt ihre Kindheit ein, die offenbar sehr glücklich gewesen ist. Liebende Eltern im relativ gutsituierten viktorianischen Hausstand sorgten für Sicherheit und Geborgenheit. Leider starb der Vater, als sie gerade mal elf Jahre alt war. Mit der älteren Schwester Madge verstand sich das aufgeweckte, fantasiebegabte Kind bestens, mit Bruder Monty weniger.

Umgang mit Giften in Krieg und Apotheke erlernt

Mit dem Ersten Weltkrieg verflog die Leichtigkeit aus ihrem Leben. Christie (damals noch Miller) betreute als Pflegerin verwundete Soldaten, später arbeitete sie in einer Apotheke.

Erfahrungen aus dieser Zeit waren – besonders was den Umgang mit Giften betraf – für ihre Krimis unbedingt von Vorteil. Ebenso wie ihre vielen Reisen: Mit der Mutter erlebte sie als Kind bereits Ägypten, sie verbrachte eine Zeit in Frankreich, mit ihrem ersten Mann Archibald Christie unternahm sie einen Trip um die Welt, zwischendurch reiste sie allein oder mit Tochter Rosalind in mehrere europäische Länder, und später entdeckte sie vor allem mit Max Mallovan den Nahen Osten. Bagdad, Ur, Mossul, Nimrud und viele andere bekannte Orte des Orients lernte sie lieben und kennen, wie es heute wohl kaum möglich wäre.

Wer Agatha-Christie-Romane kennt, wird vieles daraus in ihrer Autobiografie wiederfinden – so gut wie nie aber Menschen, denen die Autorin einmal begegnet ist. Orte, Erlebnisse, Szenen, Dinge, natürlich auch Fortbewegungsmittel wie Schiffe –nicht zu vergessen den Orient-Express – baute sie gern in ihre Literatur ein. Menschenbilder aber, die sich nicht ausschließlich in ihrer Fantasie entwickelten, mochte sie nicht zu Papier bringen, da sie niemanden kopieren wollte.

Das Äußere mancher Protagonisten allerdings konnte durchaus an einen „echten“ Menschen angelehnt sein. Und so entstanden ihre Helden, allen voran Hercule Poirot, der eitle, aber unnachahmlich schlaue belgische Detektiv, mit dem sie um die Welt reiste, und die altjüngferliche resolute Miss Marple, die lieber im heimischen England ihre Spürnase einsetzte und dort so manchem unfähigen Polizisten auf die Sprünge half.

Das Schöne an der Lebensgeschichte der Agatha Christie ist, dass sie so völlig uneitel geschrieben ist. Dabei hatte die Grande Dame der Kriminal-Literatur gute Gründe, sich viel auf ihren schon zu Lebzeiten enormen Erfolg einzubilden, der schließlich auch von der Queen 1971 mit der Verleihung eines Adelstitels gewürdigt wurde.

Was sie damals aber noch nicht wissen konnte: Heute zählt sie mit über drei Milliarden weltweit verkaufter Bücher zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen aller Zeiten und im Genre Kriminalroman gehört ihr unangefochten die Spitzenposition.

Fast 100 Filme wurden fürs Kino oder Fernsehen nach ihren Vorlagen gedreht. Ihr Bühnenstück „Die Mausefalle“ wird seit 1952 tagtäglich im Londoner West End aufgeführt und ist damit das am längsten ununterbrochen aufgeführte Theaterstück der Welt. (dpa)