Vom Sehen, Deuten und Wundern


Auf den letzten Metern vom Sittarder Museum Het Domein zum Bus sind alle schon ein bisschen müde. Ein langer Tag liegt hinter den Kunstreisenden; für Augen, Ohren und Hirn ein anständiges Paket von Eindrücken: Bilder, Skulpturen, Installationen, Perfomances und Aktionskunst. Dazu mischen sich an diesem sonnigen Herbstwochenende Momentaufnahmen von engen Sträßchen im morbid-ranzigen Lütticher Saint Leonard-Viertel, von den voll besetzten Terrassen des Sittarder Marktplatzes und von der modernen Hochglanzarchitektur des Bonnefanten Museums in Maastricht.

Eine Vielzahl von Werken haben sich die Teilnehmer der „Very Contemporary“-Bustour an diesem Tag in drei Museen erlaufen. Manche fühlen sich nach Arbeiten von Ai Weiwei und Sol Lewitt in ihrem Weltbild bestätigt: „Das ist doch keine Kunst.“ Andere sind beseelt: „Das ist ganz große Kunst.“ Und Antonia, mit sieben Jahren die jüngste Teilnehmerin der Tour, sieht es ganz praktisch: „Das war schon mein zweites Mal. Und nächstes Jahr will ich wieder mitfahren.“

Insgesamt waren an diesem Wochenende 380 Kunstliebhaber aus Aachen, Hasselt, Maastricht, Düren, Eupen, Sittard, Heerlen, Flémalle und Lüttich auf verschiedenen Routen zu 13 Museen und Kunstvereinen unterwegs. Antonia gehörte im Drei-Generationen-Trüppchen mit Mutter und Großmutter zu den 20 Teilnehmern, die sonntagmorgens in Düren und Eupen aufgebrochen sind, um sich das Espace 251 Nord in Lüttich und die besagten Häuser in Maastricht und Sittard anzusehen.

In Lüttich gab es eher Underdog-Kunst. Im Rahmen eines Austausches von vier wallonischen und vier flämischen Künstlern aus Lüttich und Antwerpen zeigt das Espace 251 Nord noch bis Ende November sperrig humorvolle Arbeiten aus den Grenzzonen von politischer Aktionskunst, Raum- und Klanginstallationen und Konzeptkunst.

Sperrig und humorvoll: Junge Kunst aus Flandern und der Wallonie in Lüttich

So bringt der 1990 in Lommel geborene Maler Kasper Bosmans ein fragiles Bild auf einen schräge Sandfläche: Ein kleiner Papagei sitzt auf einem Gitterzaun; Vogel und Werk sind gleichermaßen bedroht, Berühren ist streng verboten. Einen Raum weiter zeigt der in Lüttich lebende Künstler Antoine Van Impe ein Ensemble von Devotionalien einer Prostituierten. Tiger-Decke, Teile vom Bettgestell und eine Videokamera, die fortlaufend eine Tonspur vom eigentlichen Akt abspielt. Van Impe dekonstruiert den Besuch bei der Hure zu materiellen, visuellen und akustischen Fragmenten, wodurch er die Gedankenwelt des Betrachters provoziert: Im Kopf werden Kulisse und Szene wieder zusammengesetzt.

Starker Auftakt für die Museumstour, finden die Schwestern Lieve und Alena Deckers aus Eupen. Auch wenn die beiden bereits hier die Frage diskutieren, wie das Gesehene denn künstlerisch einzuordnen ist. Im Keller der alten Keramikmanufaktur untersucht unterdessen Antonia mit prüfendem Blick eine Skulptur von Thomas Grødal.

Der in Antwerpen lebende Norweger kombiniert zarte Aquarelle und Zeichnungen mit eisenumringten Bruchstücken von Grabsteinen und Friedhofsmonumenten. Leicht und schwer, hart und weich, ein Materialgebilde, das das kleine Mädchen herausfordert. Sie stellt sich dem mysteriösen Ding ohne Anspruch auf Deutung und findet es schlicht schön, was manche Menschen sich so ausdenken.

Nach rund zwei Stunden lässt der Busfahrer wieder den Motor an und entlang der Maas geht es in Richtung Maastricht. „Mir gefällt diese Kombination aus Reise und Kunst, ein herrlicher Tag“, sagt Antonias Mutter Alexandra Kolossa. „Und bei solchen Gelegenheiten wird einem wieder klar, wie reich unsere Region eigentlich in kultureller Hinsicht ist.“

Im Bonnefanten Museum werden natürlich die ganz Großen kredenzt, u.a. das britische Künstlerduo Gilbert und George, der Minimalist Sol LeWitt, Luc Tuymans oder Richard Serra. Der populäre Künstler Ai Weiwei begrüßt die Schar im Foyer bereits mit einer überdimensionalen Schale aus Reis. So zumindest eine erste Assoziation. In dem Gefäß sind aber Perlen aufgehäuft, gelb glitzernd, in beinahe greifbarer Nähe.

Für eine Überraschung sorgt die junge Kunsthistorikerin, die die Gruppe führen soll. Sie beginnt kein Referat über China, den verfolgten Star oder das Konzept. Nein, sie interviewt die umherstehenden Besucher. Was sehen Sie? „Eine Art Tempel.“ „Eine Kultstätte.“ „Einen Schatz.“ „Mais.“ „Plastikkugeln.“ Dann: Was könnte das bedeuten? „Überbordender Reichtum.“ „Chinas Wachstum.“ „Eine Metapher für dieses große Volk.“

Bonbon des Rundgangs ist eine Performance der Südamerikanerin Laura Lima. In einer kleinen Toilette, vielleicht zwei Quadratmeter groß, gibt es einen sonderbaren Spiegel. Sonderbar, weil er von Händen gehalten wird, die aus der Wand kommen. Echte Hände.

Lima, die jüngst mit dem renommierten niederländischen BACA Kunstpreis ausgezeichnet wurde, setzt in ihren Arbeiten auf die Präsenz von Menschen in den Kunstwerken. Ein kurzer Schockmoment setzt eine Gedankenkette in Gang.

Echte Perlen eines Ai Weiwei und echte Hände, die einen Spiegel halten.

Die letzte Station erreicht die Gruppe nach Sonnenuntergang. Im Museum Het Domein in Sittard findet derzeit die erste Ausstellung des Künstlerduos „The Yes Men“ in Europa statt. Die beiden Amerikaner haben sich durch mehrere Aktionen eine breite Öffentlichkeit geschaffen, als sie im Namen großer Konzerne mit gefälschten Pressemitteilungen und Interviews in die Medien gegangen sind. So haben sie zum Beispiel eine komplette Ausgabe der „New York Times“ mit eigenen Artikeln nachgebaut und auf den Straßen New Yorks verkauft.

Dann geht es zurück zum Bus. Der Tag bietet genug Gesprächsstoff für die Rückfahrt – sodass einige noch lange angeregt das Gesehene zwischen Hochkultur, Spielerei, Politik und Nonsens einzuordnen versuchen. Antonia ist das egal. „Kunst ist toll“, sagt sie. Und dass sie noch kein bisschen müde sei.